Eine Reihe von Therapien sind zurzeit für die Multiple Sklerose verfügbar, diese richten sich aber fast ausschließlich gegen das Auftreten der aggressiven Immunzellen. Das Fortschreiten der Krankheit (Progression), wodurch es letztendlich zu irreversiblen Defiziten kommt, kann aber bislang nicht behandelt werden. MS ist auch nach wie vor nicht heilbar.
Das endogene Retrovirus HERV-W wurde vor über 30 Jahren aus Gewebe von MS Patienten isoliert. Seine Rolle im Krankheitsprozess ist seitdem Gegenstand intensiver Forschung. Bei dem Retrovirus handelt es sich um ein in unserem Genom eingebautes Virus, welches unsere Vorfahren vor Millionen von Jahren aufgenommen haben. Interessanterweise scheint dieses Element erfolgreich stillgelegt worden zu sein, wird aber in wenigen pathologischen Situationen, und dazu gehört die MS, aktiviert.
Der initiale Verdacht, dass HERV-W als Pathogen wirkt, konnte bislang nur indirekt, d.h. über den Umweg über Zellkulturen, erbracht werden, da es sich um ein ausschließlich menschliches Virus handelt. Frühere Studien des Düsseldorfer Teams von Prof. Patrick Küry konnten durch solche ex vivo-Studien einen möglichen Einfluss von HERV-W auf die Degeneration, also den Zerfall des Nervengewebes, und eine Reduktion des natürlicherweise bereits stark eingeschränkten Regenerationsverhalten zeigen - zwei Prozesse die zur Zeit therapeutisch nicht angegangen werden können.
Die aktuellen Befunde des Teams von Patrick Küry, resultierten aus der Verwendung eines neuen Mausmodells, welches das Auftreten von HERV-W im zentralen Nervensystem (ZNS) künstlich nachvollzieht. Die Wissenschaftler konnten nun eindeutig zeigen, dass diese virale Entität tatsächlich auch in vivo an wichtigen MS-Teilprozessen beteiligt ist: Eine Schädigung der weißen Substanz (Myelin) und eine Schwächung der im erkrankten ZNS bereits stark verminderten Regenerationsfähigkeit.
Darüber hinaus konnte das Auftreten von aggressiven Mikrogliazellen bestätigt werden und zudem überraschenderweise auch die Generierung von neurotoxischen Astrozyten gezeigt werden. Hierbei handelt es sich um eine im ZNS weitverbreitete Gliazellpopulation, die an vielen Funktionen natürlicherweise beteiligt ist, die aber in Folge der Präsenz von HERV-W im Gehirn offenbar nun auch vornehmlich einen neurotoxischen Charakter ausbildet.
Wie der Erstautor Joel Gruchot, der im renommierten Fachjournal PNAS neu veröffentlichen Studie, erklärt: „Die Präsenz des HERV-W Virus im Gehirn von MS Patienten scheint ein toxisches Umfeld zu generieren. Ob dadurch diese Krankheit sogar ausgelöst werden kann, kann aus diesen Daten nicht abgeleitet werden, da sich dafür das verwendete Modell nicht eignet. Dass aber Zerfallsprozesse verstärkt und darüber hinaus empfindliche Heilungsprozesse gestört werden, konnte nun eindeutig und zum ersten Mal nachgewiesen werden.”
Parallel zur wissenschaftlichen Aufklärung des Schädigungsmechanismus werden auch klinisch-therapeutische Entwicklungen, die HERV-W bei MS Patienten neutralisieren können, vorangetrieben. Nach zwei erfolgreichen klinischen Studien mit einem neutralisierenden Antikörper namens Temelimab können die Düsseldorfer Forscher und ihre Kollegen über die neuen Befunde nun erklären, weshalb die Neurodegeneration bei den mit Temelimab behandelten MS Patienten tatsächlich abnahm: Der Antikörper scheint das „toxische“ Hüllprotein des HERV-W zu blockieren und somit seine Aktivität im ZNS und die neurotoxische Aktivierung von Mikroglia und Astrozyten zu verhindern.
Originalpublikation:
Transgenic expression of the HERV-W envelope protein leads to polarized glial cell populations and a neurodegenerative environment. Gruchot J, Lewen I, Dietrich M, Reiche L, Sindi M, Hecker C, Herrero F, Charvet B, Weber-Stadlbauer U, Hartung HP, Albrecht P, Perron H, Meyer U, Küry P. Proc Natl Acad Sci U S A. 2023 Sep 19;120(38):e2308187120.
doi: 10.1073/pnas.2308187120. Epub 2023 Sep 11. PMID: 37695891 PubMed
Quelle: HHU (Copyright 2023)